Mit der Linie U4 ins Mittelalter

27.05.2020

Liebe an Achtsamkeit Interessierte,

rund um mich ist mittelalterliches Treiben: Narren, Gaukler und Hübschlerinnen feilschen um die Wette. Hübschlerinnen war damals die Bezeichnung für Sexarbeiterinnen. Ein paar Meter weiter ein wuselnder Fischmarkt, Abfälle fliegen durch die Luft. Ein Hauch von beißendem Gestank steigt mir in die Nase. Dahinter richtet am Galgen ein Henker den Strick für die nächste Hinrichtung her.

Dabei schlendere im Frühling 2020 über den Hohen Markt in Wien. Nein, ich habe keine Halluzinationen. Auch sonst geht es mir gut. Ich gehe nur bei einem richtig guten Stadtspaziergang mit. Die Fremdenführerin Alexandra Stolba versteht es, Bilder aus fernen Zeiten in die Köpfe zu zaubern. Nicht nur vom Mittelalter.

Nach der langen Zeit im Shutdown zu Hause habe ich mich nach einer Städtereise gesehnt. Rom muss noch warten. Als ich gerade einen Online-MBSR-Kurs vorbereite, steigt eine Idee auf. Bei Achtsamkeit geht es doch darum: etwas so zu erleben, als wäre es das erste Mal. Das weckt die Neugier und öffnet die Sinne. Warum in die Ferne schweifen? Ich kann ja auch Wien durch eine andere Brille sehen.

Neulich war dann in einer Zeit im Bild ein Beitrag über Alexandra Stolba. Der Anlass: Stadtführungen mit kleinen Gruppen sind wieder möglich. Juhu! Im Freien sogar ohne Masken, aber natürlich mit einer kleinen Herde Babyelefanten. Gesagt, gegoogelt. Ich suche mir diese Führung aus:

„Verschlungene Pfade in der Altstadt – ein Spaziergang durch die Wiener Seele“

Zu Christi Himmelfahrt bin ich mit der Linie U4 zu meiner Städtereise ins mittelalterliche Wien losgefahren. Der Treffpunkt für die Zeitreise war nämlich genau dort: am Hohen Markt. Nur wusste ich das vorher nicht. Durch die Gassen in diesem Grätzl bin ich schon oft geeilt – zu einem Termin oder ins Cafe. Besonders schön oder einladend habe ich den Hohen Markt nie empfunden.

Schon in den ersten Minuten hat unsere Reisebegleiterin der Gruppe buchstäblich die Augen geöffnet. Stück für Stück blitzen vor meinem geistigen Auge Eindrücke aus dem mittelalterlichen Wien auf. Ganz nebenbei lerne ich die Geschichte von Wien kennen. Denn der Hohe Markt war um 1200 Zentrum des städtischen Lebens.

Wir reisen von der Römerzeit über das Mittelalter durch die verschiedenen Epochen. Trotz neuer Architektur lugt noch so viel aus alten Zeiten hervor, wie das erste Hochhaus von Wien oder eine Kanonenkugel aus der Türkenbelagerung von 1683 in der Sterngasse.

Eine alte Tafel von 1912 warnt in der verwinkelten Griechengasse vor flotten Kutschen. All diese Spuren habe ich bisher übersehen. Ich hatte auch keinen Schimmer, dass direkt am Schwedenplatz vor langer, langer Zeit der Donauhafen war. Der Donaukanal war früher einer der Hauptarme der Donau.

Historische Fakten haben in den zwei Stunden ebenso Platz wie Fake News. Anekdoten und Geschichten zur manchmal grantelnden Wiener Seele runden die Zeitreise ab. Es ist wie Urlaub. Rom kann warten. Sogar den „Trevibrunnen“ von Wien habe ich gerade durch ein Gitter im Kopfsteinpflaster gesehen. Den Hohen Markt und die verschlungenen Gässchen rundherum werde ich jetzt immer mit einem anderen Blick erleben. Stichwort: achtsam sehen. Ich möchte mit offeneren Augen durch meine Stadt gehen. Von geschlossenen Augen erzähle ich dann in meinem nächsten Blog: vom Schlaf und warum wir schlafen.

Schon bald stürze ich mich ins nächste Wienabenteuer zur Kulturgeschichte der Toilette "Stilles Örtchen – wo selbst der Kaiser zu Fuß hingeht“.

Für alle, die auch die Lust auf eine Städtereise in Zeiten von Covid-19 packt: Zahlreiche unterhaltsame und informative Stadtspaziergänge sind unter http://www.wien-sightseeing.at/ zu finden.

Liebe Grüße

Brigitte
Mag. Brigitte Wegscheider | Letztes Update am 27.05.2020